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HISTORISCHE EINFÜHRUNG ZUR GESAMTEDITION
 

Die Konstituierung der Provisorischen Regierung Karl Renner

Die erste Sitzung des Kabinetts fand am 29. April 1945 gemeinsam mit den Vertretern der provisorischen Stadtverwaltung im Wiener Rathaus statt und endete mit einem gemeinsamen Gang zum Parlament, „als Symbol der Freiheit der Republik“.

Erst in der zweiten Sitzung am 30. April 1945 fand die eigentliche Konstituierung der Provisorischen Regierung statt. Die Sitzung gibt zwar Aufschluß über den formalen Aufbau des Kabinetts, bei dem zwischen politischen Kabinett, Ressortkabinett und Gesamtkabinett unterschieden wird, enthält aber keine Angaben über Vorgeschichte oder Zusammensetzung der Regierung.

Erst nach umfangreichen Parteienbesprechungen und nach Zustimmung des sowjetischen Marschalls Fedor Tolbuchin konnte die Regierung zusammentreten und sich konstituieren. Bei der Bildung der Regierung war Karl Renner führend gewesen: "Im Einvernehmen mit allen demokratischen antifaschistischen Parteien Österreichs, mit Ausschluß der Faschisten und Nationalsozialisten, mit Zustimmung des Kommandos der besetzenden Roten Armee hat der erste Staatskanzler [gemeint ist 1918] und letzte Präsident der demokratischen Volksvertretung der gewaltsam aufgehobenen ehemaligen Bundesrepublik Österreich Dr. Karl Renner als nächsten Schritt zur Wiederbefreiung unseres Volkes und zur Aufrichtung der selbständigen, unabhängigen, demokratischen Zweiten Republik Österreich die Bildung einer Staatsregierung und die Neuschöpfung der erforderlichen Zentralbehörden in Angriff genommen...“

Staatskanzler und Staatssekretäre

In der Terminologie griff Renner mit der Bezeichnung Staatskanzler und Staatssekretäre bewußt auf den Beginn der Ersten Republik zurück. Die Staatssekretäre waren Ressortschefs mit den Vollmachten von Ministern. Für sie war zur Erledigung der einzelnen Verwaltungsaufgaben eine nicht genau fixierte Anzahl von Unterstaatssekretären vorgesehen. In jedem Staatsamt waren jene Parteien, deren Vertreter nicht mit der Leitung betraut waren, durch Unterstaatssekretäre vertreten. Für das Staatsamt für Finanzen und Justiz wurden nicht-parteigebundene Fachmänner ausgewählt. An der endgültigen Staatssregierung waren alle drei, von der sowjetischen Besatzungsmacht zugelassenen Parteien annähernd gleich stark vertreten. Die Sozialistische Partei Österreichs stellte elf Staats- und Unterstaatssekretäre, die Österreichische Volkspartei ebenfalls elf, die Kommunistische Partei Österreichs neun, ergänzt durch drei parteilose Regierungsmitglieder.

Die Provisorische Staatsregierung war damit ein relativ großes Gremium, nicht zuletzt auch damit begründet, daß die Regierung Gesetzgebung und Vollziehung vereinte. Für wichtige und rasche Entscheidungen wurde daher der Politische Kabinettsrat geschaffen, der aus dem Chef der Regierung, Karl Renner, und drei Staatssekretären ohne Portefeuille bestand: Adolf Schärf für die SPÖ, Leopold Figl für die ÖVP und Johann Koplenig für die KPÖ. Ursprünglich war Leopold Kunschak für die ÖVP vorgesehen gewesen und ein vierter Staatssekretär, Vinzenz Schumy, für den ehemaligen Landbund. Durch die Aufnahme Schumys in die ÖVP entfiel dieser vierte Staatssekretär im Politischen Kabinettsrat.

Die regionale Herkunft und die politische Zusammensetzung der ersten Staatsregierung weist einige Besonderheiten auf. Von den ursprünglich 34 Regierungsmitgliedern, deren Zahl im Laufe des Jahres 1945 noch weiter stieg, kamen zehn Politiker aus dem Bundesland Niederösterreich und einundzwanzig aus Wien. Erst mit der Regierungsumbildung nach der Länderkonferenz im September 1945 kam es zu einer stärkeren Beteiligung der westlichen Bundesländer. Auffallend ist zudem noch der hohe Anteil von Akademikern (15) und die große Zahl von Regierungsmitgliedern (13), die unter nationalsozialistischer Zeit Verfolgung erlitten hatten. Ihr Anteil stieg im Verhältnis noch in der auf die Provisorische Regierung Renner folgenden Regierung Figl I. Die bedeutend kleinere Regierung Figl mit durchschnittlich siebzehn Regierungsmitgliedern wies noch immer zwölf bis vierzehn Politiker auf, die in der nationalsozialistischen Zeit Verfolgung erlitten hatten, wobei sich die Zahl auf ÖVP und SPÖ annähernd gleich aufteilte. Ihre bitteren Erfahrungen in den Konzentrationslagern und in der Widerstandsbewegung hatten einen neuen Verständigungswillen und eine positive Einstellung zur Zusammenarbeit geschaffen.

Der Politische Kabinettsrat

Der Politische Kabinettsrat war jenes Gremium, in dem der politische Konsens hergestellt wurde. Von den Sitzungen des Politischen Kabinettsrats sind allerdings keine Unterlagen auffindbar, bzw. erhalten. Es gibt auch keine Angaben zur Häufigkeit der Sitzungen, zum Ablauf oder zu den Tagesordnungspunkten. Beratungsthemen können nur indirekt aus Hinweisen in den Protokollen des Gesamtkabinetts und aus einzelnen Ressortakten geschlossen werden. Staatssekretär Franz Honner stellte in der 6. Sitzung des Kabinettsrates am 13. Mai 1945 im Rahmen der Verfassungsdiskussion die berechtigte Frage: "Wie faßt der Politische Kabinettsrat seine Beschlüsse? Wer gibt ihm die Geschäftsordnung? Wird die Geschäftsordnung in der allgemeinen enthalten sein oder nicht?" Staatskanzler Renner hielt eine Geschäftsordnung für den Politischen Kabinettsrat nicht für notwendig. Zur Abgrenzung des Ressortkabinetts gegenüber dem Politischen Kabinettsrat verwies er auf die Verfassung. Der Hinweis im Konzept zu Protokoll 6 "Politisches Kabinett = Bundespräsident + Parlament" ist mehrfach nicht zutreffend. Die Aufgaben des Politischen Kabinettsrats, der die Vorläufige Verfassung festlegte, waren zwar weitgehend mit den Kompetenzen des Bundespräsidenten identisch, doch ging in der Praxis die Bedeutung weit über die Verfassungsbestimmungen hinaus.

Der Politische Kabinettsrat war das zentrale Gremium für Parteienbesprechungen. Über alle wichtigen Gesetze wurde im Politischen Kabinettsrat der Grundkonsens hergestellt. Alle anfallenden Aufgaben wurden vom Politischen Kabinettsrat zunächst ohne feste Regelung erfüllt. Dies geht aus einem Akt der Staatskanzlei aus dem Oktober 1945 hervor. Erst nach der Anerkennung der Provisorischen Staatsregierung durch die Alliierten und der Ausdehnung ihres Wirkungsbereiches auf das gesamte Staatsgebiet hielt man in der Staatskanzlei eine Zweiteilung der Sitzungen für notwendig. Im ersten Teil sollten Gnadenanträge, Personalangelegenheiten und Entregistrierungen von Nationalsozialisten vorgenommen werden, während der zweite Teil "weiterhin den Parteienberatungen" vorbehalten bleiben sollte. Erst ab diesem Zeitpunkt mußte für den ersten Teil analog den Beratungen des gesamten Kabinetts eine schriftliche Tagesordnung vorbereitet werden. Die Beschlüsse wurden durch den diensthabenden Beamten der Staatskanzlei protokolliert.

Das Gesamtkabinett

Trotz der Vorberatung wichtiger Fragen und Gesetze im Politischen Kabinettsrat, enthalten auch die Diskussionen im Gesamtkabinett genügend Beispiele für die Schwierigkeiten bei der Erzielung eines politischen Konsens.

Während der Politische Kabinettsrat in der Häufigkeit seiner Sitzungen und in den Abläufen vollkommen frei war, liefen die Sitzungen des Gesamtkabinetts nach einem zum Teil aus der Ersten Republik übernommenen Schema ab.

Erst am 13. Mai 1945 war rückwirkend mit 1. Mai die Vorläufige Verfassung beschlossen worden, in der im II. Abschnitt die Kompetenzen der Provisorischen Staatsregierung geregelt waren. Bis dahin gab es aber schon sechs Kabinettsratssitzungen. Die äußere Form zeigte eine starke Kontinuität zur Ersten Republik, für die Staatskanzler Karl Renner sorgte. Angaben über Vorsitz, Anwesenheit, Ort, Schriftführer und Dauer sowie über vorhandene Reinschrift, Konzepte und Beschlußprotokolle folgten einem bewährten Schema, wenngleich eine gewisse Uneinheitlichkeit in der äußeren Form - etwa fehlende Angaben über die Schriftführer oder fehlende Anwesenheitsliste - den provisorischen Charakter der ersten Sitzungen zeigen. Erst allmählich wurde zu einer einheitlichen Form gefunden. Bei den Tagesordnungspunkten blieb aber der provisorische Charakter erhalten. Die Absetzung einzelner Punkte von der Tagesordnung oder Verschiebungen waren üblich. Unter Punkt 1 der Tagesordnung "Mitteilungen des Staatskanzlers" konnten jederzeit neue Themen auf die Tagesordnung kommen. Für die ordentlichen Sitzungen war jeweils der Dienstag vorgesehen, wenngleich auch dabei die außerordentlichen Verhältnisse dazu führten, daß z.B. nur neun der ersten sechzehn Sitzungen tatsächlich an einem Dienstag stattfanden. Im Mai und Juli 1945 tagte der Kabinettsrat je acht mal. Auch die vorgesehene Dauer von zwei Stunden konnte nur in den wenigsten Fällen eingehalten werden. Kabinettsratsprotokoll 23 vom 7. August 1945 liefert den Hinweis, daß jeweils am Montag sogenannte Verbindungssitzungen abgehalten wurden. Gleichzeitig wurde jedoch auf Vorschlag des Staatskanzlers beschlossen, die Sitzungen des Kabinettsrates von Dienstag auf Mittwoch abends 20 Uhr zu verschieben.

Die Geschäftsordnungsfrage

Die Sitzungen verliefen nicht immer reibungslos. Geschäftsordnungsfragen führten immer wieder zu Diskussionen.

Obwohl Staatskanzler Renner in der 2. Sitzung des Kabinettsrates den Entwurf einer Geschäftsordnung vorgetragen und einen Abdruck an alle Mitglieder der Staatsregierung verteilt hatte und darüber hinaus mittels Beschluß eine Geschäftsordnung genehmigt wurde, kam es laufend zu weiteren Diskussionen zu diesem Thema. Die Schwierigkeit bei der Geschäftsordnungsfrage in der Zweiten Republik liegt darin, daß die in der 2. Sitzung genehmigte Geschäftsordnung dem Sitzungsprotokoll nicht beiliegt, so daß der genaue Text dieser beschlossenen Geschäftsordnung nicht nachvollziehbar ist. Nach dieser Sitzung wurde aber in weiterer Folge im Kabinettsrat noch häufig über eine noch zu beschließende Geschäftsordnung gesprochen. In der 3. Sitzung findet sich im Konzept ein Hinweis auf ein Statut, das der 5. Sitzung als Material beiliegt und detaillierte Angaben über den Geschäftsgang enthält. Das Statut wurde zwar nie beschlossen, doch entsprach der tatsächliche Geschäftsgang - Sitzungsort, Sitzungszeit, Vorbereitung der Tagesordnung und Reihung durch den Kanzler, Debatte und Beschlußfassung - im Großen und Ganzen der vorgeschlagenen Regelung. Zur Einstimmigkeit hieß es in dem Statut: "§ 9 Eine Abstimmung und Entscheidung per majora findet nicht statt". In der darauffolgenden Sitzung wurde rückwirkend mit 1. Mai die Vorläufige Verfassung beschlossen, deren § 17 lautete: "Die provisorische Staatsregierung gibt sich ihre Geschäftsordnung durch Beschluß".

Die Lösung der Frage der Geschäftsordnung wurde zwar als "dringlich" bezeichnet, um aus der "Formlosigkeit der bisherigen Beratungen...herauszukommen", doch fand ein Entwurf des Staatskanzlers und ein Gegenentwurf "von anderer Seite" keine Beratung im Kabinettsrat. Außer dem "Statut der Staatsregierung" konnten trotz intensiver Suche in den Aktenbeständen nur noch zwei weitere Dokumente zur Geschäftsordnung des Kabinettsrats gefunden werden. Ein Entwurf "Geschäftsordnung des Kabinettsrates" findet sich im Archiv der Republik. Ein weiterer "Entwurf" findet sich im Institut für Zeitgeschichte im Nachlaß Lois Weinberger. Alle drei Entwürfe weichen voneinander ab und geben keinen Aufschluß über Verfasser, Herkunft oder Zeitpunkt der Entstehung.

Im Tagesordnungspunkt 2 des Protokolls Nr. 8 heißt es lapidar: "Der als Punkt 2 auf der Tagesordnung stehende Bericht des Staatskanzlers über die Geschäftsordnung für den Kabinettsrat gelangt nicht zur Verhandlung.“ In weiterer Folge wurde besonders von Staatssekretär Ernst Fischer Klage geführt: "Wir haben auch für unsere Verhandlungen im Kabinettsrat noch keinen Boden, da wir noch immer keine Geschäftsordnung haben." Über diese Klage geht Staatskanzler Renner allerdings locker hinweg: "Zur Frage der Geschäftsordnung bemerke ich gegenüber dem Kollegen Fischer, daß das englische Parlament nie eine Geschäftsordnung beschlossen hat (Staatssekretär Fischer: Hat aber eine Tradition, die wir nicht haben!) Wir sind daran eine Tradition zu begründen. Aber ich finde, wir haben uns ohne Geschäftsordnung ganz gut vertragen."

Die Äußerungen von Staatskanzler Renner sind in zweifacher Hinsicht bemerkenswert. Einerseits gab es bereits eine Tradition aus der Ersten Republik, die sich auch in einer starken Kontinuität beim tatsächlichen Geschäftsgang der Kabinettsratssitzungen in der Zweiten Republik zeigt, anderseits signalisiert Renners Einschätzung des sich "ganz gut vertragens", daß es dem Staatskanzler mit einer Geschäftsordnung nicht so dringend war. Im Zweifelsfall konnte immer der Staatskanzler den Gang der Sitzungen bestimmen. Renner folgte damit sogar einer vorrepublikanischen Tradition. Die Willensbildung des Ministerrats war auch in der Monarchie nicht ausdrücklich geregelt. Auch für diese Zeit wird vermutet, daß die Unterlassung einer ausdrücklichen Regelung mit Absicht erfolgte, "weil die politische Situation es als zweckmäßig erscheinen ließ". Eine Geschäftsordnung wie in der Ersten Republik wurde bis zum heutigen Tag nicht beschlossen.

Staatssekretäre-Unterstaatssekretäre

Die Kabinettsratsprotokolle bringen zahlreiche Beispiele für Renners autoritäres Vorgehen bei Unklarheiten. Der Staatskanzler erließ u.a. mehrmals Richtlinien für das Verhältnis Staatssekretäre- Unterstaatssekretäre, das durch die Vorläufige Verfassung nicht eindeutig geklärt war. Bei jedem Gesetzesentwurf müßten "die Staatssekretäre schon vorher mit ihren Unterstaatssekretären ins Klare gekommen sein". Zu heftigen Diskussionen kam es über die Teilnahme, bzw. Nichtteilnahme der Unterstaatssekretäre an Kabinettsratssitzungen. Bei den Besprechungen über das Verfassungs-Überleitungsgesetz und die Vorläufige Verfassung brachte Staatssekretär Ernst Fischer den "berechtigten Protest der Unterstaatssekretäre seines Amtes vor, die sich darüber beschweren, daß sie zu solchen entscheidenden Sitzungen nicht beigezogen werden". Staatskanzler Renner entgegnete, "daß der Modus, daß die Unterstaatssekretäre diesmal ausgeschaltet werden mußten, ungewöhnlich sei und kein Präjudiz schaffen solle. Die generelle Auffassung von Staatssekretär Fischer könne er nicht ganz teilen. Der politische Unterstaatssekretär sei im Staatsamt der Beauftragte seiner Richtung, in Wahrheit spreche also im Kabinettsrat schon das Staatsamt. In wichtigen Sachen möchte er gewiß auf den Beirat der Unterstaatssekretäre im Plenum nicht verzichten".

Die 6. Sitzung war allerdings die erste und einzige Sitzung, an der keine Unterstaatssekretäre teilgenommen hatten. Über die Gründe warum gerade bei der so wichtigen Verfassungsdiskussion keine Unterstaatssekretäre anwesend waren, können allerdings nur Spekulationen angestellt werden.

Renners Einschätzung, daß die Regierung sich "ganz gut vertragen" hat, stimmt weitgehend, wenngleich einige Konflikte nur durch die Autorität des Staatskanzlers bereinigt wurden.

Eine Konzentrationsregierung am Beginn der Zweiten Republik

Die Bildung einer Konzentrationsregierung zwischen ÖVP, SPÖ und KPÖ war 1945 nicht selbstverständlich, wenn man die politische Entwicklung der Ersten Republik bedenkt.

Die drei Parteien ÖVP, SPÖ und KPÖ konstituierten sich im April 1945 - nach zwölf Jahren der Unterbrechung der demokratischen Tradition - "im wesentlichen so, wie es der Vergangenheit entsprach". Auffallend unverändert hatten die politischen Lager die Zeit des Austrofaschismus und Nationalsozialismus überdauert. Das christlich-konservative, das sozialistische und das nationale Lager zeigten eine starke Kontinuität zur Ersten Republik, ja sogar zur österreichisch-ungarischen Monarchie. Das nationale Lager blieb allerdings durch die Haltung der Sowjets, bzw. aller vier Besatzungsmächte als politische Kraft bis 1949 ausgeschaltet.

Trotz des Fortbestehens der "Lagermentalität" aus der Ersten Republik und der Tendenz bei ÖVP und SPÖ, sich jedes organisierbare Interesse auch parteimäßig einzuverleiben, hatte sich aber im Bewußtsein und im Verhalten der politischen Eliten eine grundlegende Änderung vollzogen, die es den einst bitter verfeindeten Bürgerkriegsgegnern von 1934 ermöglichte, eine Regierungsallianz zu schließen. Leidvolle Erfahrungen aus "Parteihader" und Klassenkampf der Ersten Republik, der im Terror des nationalsozialistischen Reiches endete, schufen einen neuen Verständigungswillen und eine positive Einstellung zur Zusammenarbeit. Noch in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern und in der Widerstandsbewegung hatten Persönlichkeiten des gemäßigten Flügels der christlich-sozialen und der sozialdemokratischen Partei die Wiedererstehung der Republik Österreich vorbereitet. Das Fehlen jeglicher revolutionärer Situation nach Kriegsende überließ den revitalisierten Parteieliten die Führung, die "von niemanden gerufen als von dem Vertrauen des Volkes und ihrem eigenen Gewissen die Geschäfte im die Hand" genommen hatten. Die äußere Klammer für die Zusammenarbeit in der Regierung bildeten zusätzlich die alliierten Besatzungsmächte.

Unter sowjetischer Besatzung

"Wir können nicht warten, bis uns die anderen diktieren" umriß der Staatskanzler im Juni 1945 seine Vorstellung und charakterisierte damit die Grundposition, die die Regierung in den Beziehungen zu den Befreiern einnahm, die sehr bald als Besatzungsmächte empfunden wurden.

Für den Zeitraum des vorliegenden Bandes mußte sich die Provisorische Regierung Renner im Bereich der 3. Ukrainischen Front vor allem mit der sowjetischen Besatzungsmacht auseinandersetzen. Die Kabinettsratsprotokolle enthalten zahlreiche Beispiele für eine positive Zusammenarbeit. Laufend kam es zu Hilfestellung bei Ernährungs- und Versorgungsfragen. Der sowjetischen Weisung, "daß nicht allzu viele Gesetze gemacht werden, sondern daß wichtige praktische Arbeit gemacht wird", folgte die österreichische Regierung allerdings nicht. Neben den notwendigen wirtschaftlichen Aufbaumaßnahmen wurde die gesamte Verwaltung mit Hilfe zahlreicher Gesetze raschest wieder aufgebaut. Die Haltung der sowjetischen Besatzungsmacht, "die der Provisorischen Staatsregierung Möglichkeiten der administrativen und legislativen Entfaltung gab, die in den westlichen Bundesländern keine Parallele fand", erklärt sich Gerald Stourzh mit "der Taktik der Sowjets, eine Fernsteuerung der Regierungstätigkeit über den Umweg der Teilnahme einheimischer Kommunisten an der Regierung zu versuchen".

Die Förderung der Regierung Renner durch die Sowjets erregte allerdings Mißtrauen bei den Westmächten und verzögerte die Ausdehnung der Autorität der Regierung auf ganz Österreich und ihre Anerkennung durch die westlichen Alliierten bis 20. Oktober 1945.

Im Zeitraum des vorliegenden Bandes konnte die Provisorische Regierung Renner zunächst nur im Bereich der 3. Ukrainischen Front wirksam werden, bzw. war ihre Wirkungsbereich nach der Kapitulation Deutschlands auf Wien, fast ganz Niederösterreich und den Großteil der Steiermark beschränkt. Vom Anspruch her wurden aber alle gesetzlichen Maßnahmen für den Gesamtstaat geschaffen. Die Kabinettsratsprotokolle weisen daher ein breites Spektrum auf.

Konsens und Konflikt in der Provisorischen Staatsregierung in Verfassungsfragen

Der Aufbau der gesamten Verwaltung, einschließlich des Sicherheitsapparates, Gesetze zur Entnazifizierung, Maßnahmen zur Sicherung der Ernährung und zum Wiederaufbau der Wirtschaft sowie Verfassungsfragen wurden in sehr offener Form von den Regierungsmitgliedern diskutiert. In vielen Tagesordnungspunkten kam es zur Übereinstimmung aller Parteien bei der Lösung von Problemen. Die Zusammenarbeit in der "Dreieinigkeitsregierung" ging aber nicht immer konfliktfrei vor sich.

Zu den größten Auseinandersetzungen zwischen den Regierungsmitgliedern kam es bei Verfassungsfragen. Gerade bei diesen Diskussionen zeigt sich auch exemplarisch das autoritäre Vorgehen von Staatskanzler Karl Renner.

In der 6. Sitzung, die einzige Sitzung, an der nur die Staatssekretäre teilgenommen hatten, kam es anläßlich der Debatte über das Verfassungs-Überleitungsgesetz, zu keiner einheitlichen Auffassung über die Wiederinkraftsetzung des Bundes-Verfassungsgesetzes in der Fassung von 1929. Staatssekretär Johann Koplenig glaubte nicht, "daß die gegenwärtige Regierung befugt und berechtigt sei, Verfassungsgesetze zu beschließen, die einer kommenden Nationalversammlung vorgreifen. Das wäre ein antidemokratischer Akt". Karl Renner und Adolf Schärf versuchten, das Vorgehen zu rechtfertigen. Der Staatskanzler betonte, daß er ursprünglich das alte Parlament einberufen wollte, "wobei an Stelle der nationalen Abgeordneten Kommunisten berufen werden sollten". Dies sei aber nicht gestattet worden. Staatssekretär Adolf Schärf führte dazu aus, "da unter diesen Umständen kein anderer gesetzgebender Körper zugelassen sei als die Regierung, so müsse diese, so unangenehm es sei, zu Verfassungsgesetzen schreiten". Für die Sozialdemokraten wäre zwar das Zurückgehen auf die Verfassung 1920 "am angenehmsten", doch fühlten sie sich nicht berechtigt, "das Ergebnis einer 14-jährigen demokratischen Entwicklung rückgängig zu machen".

Beim Beschluß über das Gesetz stellte Staatssekretär Johann Koplenig fest, "daß er mit dem Vorgang nicht einverstanden sei". Staatssekretär Ernst Fischer betonte, "daß eine Einheitlichkeit nicht vorhanden sei". Staatskanzler Karl Renner schließt lakonisch die Debatte: "Dann müssen die Herren die Konsequenzen ziehen. Darum habe ich gesagt: unterwerfen Sie sich dieser Auffassung oder nicht?" Nach den Darstellungen Adolf Schärfs hätte Renner die Frage nach der Konsequenz, die gleichbedeutend mit der Demission gewesen wäre, zweimal gestellt. Da die kommunistischen Staatssekretäre still geblieben waren, erklärte der Kanzler die Vorlage für angenommen.

Das die kommunistischen Vorbehalte gegen das Vorgehen der Regierung in der Verfassungsfrage nicht ganz unberechtigt waren, geht allerdings aus den Bemerkungen des Staatsamtes für Justiz zum Verfassungsüberleitungsgesetz hervor, die sich weitgehend mit dem kommunistischen Standpunkt deckten. Das Staatsamt für Justiz, nicht von einem Kommunisten, sondern von dem Parteilosen Dr. Josef Gerö geführt, erinnerte an die Regierungserklärung, in der von den Grundsätzen der Verfassung des Jahres 1920 und nicht von 1929 gesprochen worden war, glaubte auch, daß das Verfassungsüberleitungsgesetz das Mandat der provisorischen Staatsregierung überschreitet. Abschließen heißt es, "daß nicht eine unmittelbare Notwendigkeit besteht, das Verfassungsgesetz 1929 wieder in Kraft zu setzen, und [...] daß man mit dem Gesetz über die vorläufige Verfassung ohne weiters das Auslangen finden kann".

Eine breite Diskussion über neue, demokratische Verfassungsinhalte wie sie die KPÖ anstrebte, lag nicht im Interesse von ÖVP und SPÖ. Dies hätte nicht zuletzt eine Auseinandersetzung mit der Verfassungsentwicklung der Ersten Republik bedeutet, ein Thema, das zu den Tabus der Parteispitzen der beiden Großparteien gehörte. Die Tabuisierung bestimmter Themen und damit die für Österreich spezifische Verdrängung der jüngsten Geschichte war aber eine der Grundlagen für die Stabilität der sich entwickelnden Koalition.

Bei den Diskussionen im Kabinettsrat um die Neuordnung des Gemeinderechtes und das Wiederinkraftsetzen der Verfassung der Stadt Wien in der Fassung von 1931 kam es zu ähnlichen Auseinandersetzungen wie beim Verfassungsüberleitungsgesetz. Auch dabei wollten die kommunistischen Staatssekretäre wieder über demokratische Verfassungsinhalte diskutieren.

Staatskanzler Karl Renner stellte dazu grundsätzlich fest: "Wir sind eine Vereinbarungsregierung. Wir sind geworden durch alle drei Parteien, und es ist vorausgesetzt, daß alle drei Parteien sich über eine Sache einigen [...]. Ich bemerke mit allem Nachdruck, daß ich darüber wachen werde, daß eine Regierung der Vereinbarung nicht ersetzt werde durch eine Regierung einer Minderheit [...]. Und wenn die Zeit drängt und es kommt keine Einigung zustande, so halte ich mich für verpflichtet, um den Termin nicht zu versäumen, nach bestem Wissen und Gewissen eine Entscheidung ex praesidio zu treffen."

Bei der Abstimmung über das Wiener Verfassungs-Überleitungsgesetz setzte der Staatskanzler seine Auffassung sofort in die Praxis um. Obwohl keine Einstimmigkeit im Kabinettsrat hergestellt werden konnte, erklärte er das Gesetz für angenommen. Die Abschlußdiskussion läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig:

"Ich erkläre, daß die überwiegende Auffassung des Kabinetts sich mit der meinigen deckt. Das Gesetz...für angenommen.

(Vereinzelter Widerspruch). Damit ist die Sitzung geschlossen.

Unterstaatssekretär Helmer: Herr Unterstaatssekretär Mödlagl nennt das einen Dreh. Ich bitte, daß das entsprechend gerügt wird.

(Der Zwischenruf des Unterstaatssekretärs Ing. Mödlagl war in der herrschenden Unruhe am Stenographenplatz nicht vernehmbar.)

Staatskanzler Dr. Renner: Haben Sie einen Einwand zu erheben?

Unterstaatssekretär Ing. Mödlagl: Ja.

Staatskanzler Dr. Renner: Und welche Konsequenzen ziehen Sie daraus?

Unterstaatssekretär Ing. Mödlagl: 1. werde ich den Einwand begründen...

Staatskanzler Renner: Ich werde mich nicht herstellen, bei der überwiegenden Mehrheit der Auffassungen, mich in Einzelheiten einzulassen.

Die Sitzung ist geschlossen."

Der Staatskanzler als Vorsitzender der Staatsregierung ging damit weit über seine Rolle als primus inter pares hinaus. Karl Renner hatte es stets verstanden, alle rechtlichen und politischen Möglichkeiten - von einsamen Entschlüssen bis zur Drohung mit dem eigenen Rücktritt - zu nützen.

Vor der Länderkonferenz im September 1945 waren auch Renner gewisse Bedenken über sein Vorgehen bei der Staatsgründung gekommen. Zumindest fühlte er sich im Kabinettsrat kurz vor der Länderkonferenz bemüßigt, sein Handeln in den vorangegangenen Monaten zu rechtfertigen. Mehrmals betonte er im Kabinettsrat vom 19. September 1945, daß die politischen Parteien, die Regierungsmitglieder und er, sich die Macht nicht usurpiert hätten. Renner betonte, daß die Regierung "die vollste Legitimation" hatte, "für den ganzen Staat zu handeln" und eine "absolut vorgesehne und in der Tat bewiesene Überparteilichkeit" bewiesen hätte. Für das weitere Vorgehen der Regierung meinte der Staatskanzler: "Ich bin dafür, daß wir das System der bewußten und institutionalisierten Überparteilichkeit bis nach den Wahlen beibehalten." Als Grundlinie gegenüber den vier Besatzungsmächten formulierte Renner: "Jeder Gegensatz schlägt auf uns selbst zurück und trifft uns schwer. Deshalb sollten wir in allen Dingen die Verständigung suchen..."

Mit diesen Vorgaben -institutionalisierte Überparteilichkeit und der Wille zur Verständigung zwischen den Parteien waren die Weichen für die Zweite Republik gestellt.

Ausgehend von der Fiktion der Stunde Null 1945 wurde in Österreich alles Belastende aus der Zwischenkriegszeit beiseite geschoben. In beiden Großparteien waren ab 1945 gemäßigte Kräfte in hohen Partei- und Regierungsfunktionen, die die Konzentrations- bzw. Koalitionsregierung als adäquate Regierungsform ansahen.

Die Kabinettsratsprotokolle der ersten Monate zeigen deutlich, daß die Führungskräfte der Parteien die "unvorstellbaren Schwierigkeiten" gemeinsam bewältigten. In der "gleichsam enthaupteten Republik" wurden alle Zentralbehörden raschest wieder eingesetzt. "Der Staat ohne Geld, der herrschaftslose Staat" wurde von den demokratischen Parteien wieder aufgebaut. Es war der Leistung der Provisorischen Regierung Renner zu verdanken, daß schon nach den ersten Monaten wieder alle Behörden, Polizei, Gendarmerie, Post, Telephon und Steuerämter funktionierten und daß die Gefahr des Massenhungers und der Massenseuche abgewendet werden konnte.